Bernd Dost
Nachwort zu "Wenn mehr nicht genug ist" von Peter C. Whybrow


Dieses Buch ist ein Blattschuss in das Herz unserer Selbstzufriedenheit. Wem mehr nicht genug ist, der nimmt unweigerlich jemand anderem etwas weg. Wer wenig hat, gibt viel, ist ein Satz aus meiner Kindheit, und: Wer viel hat, gibt wenig. Doch es gibt sie, die großherzigen Vermögenden, die ihr Hab und Gut stiften, einen Bruchteil davon – zum guten Zweck. Wiedergutmachung begangenen Unrechts! Sie, die 250 reichsten Einzelpersonen der Welt, besitzen soviel wie die ärmere Hälfte der Menschheit, wie die drei Milliarden Armen. Tue Recht und scheue niemand, verlangte die Mutter eines meiner Freunde von ihrem Sohn. Ich scheue die Erkenntnis: Ich tue Unrecht. Ich will mehr. Ja, ich will mehr. Ich will mehr Geld, mehr Anerkennung, mehr Liebe. Ich bekomme nicht genug davon. Ja, uns geht es schlecht. Wir haben an allem Wesentlichen zu wenig: an Miteinander, Mitgefühl, Mitleid. Unsere Seele hat sich längst verflüchtigt. In uns ist nur Leere – an- und ausgefüllt mit Waren. Wir sind aus den Dingen, die wir kaufen, zusammengesetzt. Da wir innerlich leer sind, ist es leicht, uns voll zu pfropfen mit Überflüssigem bis zum Überdruss in dieser unserer Gesellschaft im Überfluss – wie sie John Kenneth Galbraith schon 1959 nannte.


Was geschieht, wenn wir innerlich ausgebrannt sind wie Ruinen nach einem Raketenangriff? Peter C. Whybrow schildert eindringlich die Angstattacken von Kim Phan, einer erfolgreichen international agierenden Anwältin: „Manchmal weiß ich nicht mehr, welchen Sinn mein Leben eigentlich hat, und ich habe das Gefühl, als gäbe es mich gar nicht richtig. Ich bin nicht mehr ich selbst, fühle mich als gefälschte Person.“

Pierre Janet, der Schöpfer der Klinischen Psychologie, bringt ebenfalls zwei Beispiele aus seiner Praxis. Eine junge Frau sah sich plötzlich depersonalisiert. Sie steht auf der Straße und fragt sich: „Wo bin ich jetzt, was ist aus mir geworden? Was ist aus meiner Person geworden? ... Ich bin nicht mehr da. Ich weiß nicht mehr, was ich bin. Ich bin keine Peson mehr, die geht, die denkt. Ich bin nichts. Mein Ich ist gänzlich verschwunden.“ Ein junger Mann erlebt eine ähnliche Derealisation:„Mir ist so, als sei nicht ich es, der geht, lebt, ist. Selbst wenn ich schlafe, habe ich nicht das Gefühl, das ich es bin... Der eigene Körper ist mir unbehaglich, wie wenn er mir nicht gehören würde...“

Dieses Unbehagen wirft ein Schlaglicht auf Amerikas gestörte Geistesverfassung und auch auf die Verfassung der von den USA inseminierten Vasallen – von uns. Fettleibigkeit, ungehemmtes Wachstum, Krebs, Stress, hohe Verschuldung und hoher Blutdruck, Zeitmangel, Schlaflosigkeit, Angstpsychosen, Zwänge und Zwangsversteigerungen, Börsencrash und Depressionen... Unsere Fast New World – wie Peter sie an die menschenverachtende Schöne Neue Welt von Aldous Huxley nennt gleicht einem manisch-depressiven Patienten. Zunächst in Glücksgefühlen und Optimismus euphorisch abhebend, dann Wirklichkeitsverlust, Verlust der Urteilsfähigkeit und des rationalen Denkvermögens und schließlich dann Absturz in die Depression. Das verklärte Streben nach Glück ist heute längst umgeschlagen in hektische Unzufriedenheit und lähmende Frustration, sagt uns Peter C. Whybrow.

Ein Fallbeispiel aus der Praxis der Klinischen und Physiologischen Psychologie, Tübingen: Ich drehte auf... Ich fühlte mich ozeanisch... Dann liebt man mich, wenn ich in Champagnerlaune bin. Dann mag man mich, wenn ich energisch alles packe. Dann bewundert man mich, wenn ich keinen Schmerz, keine Müdigkeit kenne. Dann beneidet man mich, wenn meine Kreativität Funken sprüht... .

... Und es dauert meist nicht lange, dann kommen die bösen Geister: Wachträume von Selbstmord... Ich stelle mir vor, wie ich mit dem Auto mit 180 gegen einen Baum fahre, wie ich mich auf die Schienen lege oder Tabletten nehme. Und dann steigert sich dieser Schrecken in mir bis zu dem Irrwitz, indem ich in jedem Gegenstand ein Selbstmordinstrument entdecke.


Unsere Lähmung hindert uns am Nachdenken, unsere Frustration an Klarsicht. Der innerlich ausgebrannte, äußerlich reiche Marktmensch – von den armen wird noch zu reden sein – ist leicht zu stimulieren und zu manipulieren. Die einst geheimen Verführer treten heute mit forscher Stirn hochaggressiv auf, züchten in den leer geräumten Kellern unseres Selbst künstliche Bedürfnisse, lassen unser Nichts im Schein von Luxusgütern erstrahlen, pflanzen in uns den Glauben an die Götzen des Goldes und des Geldes. Geld verdirbt nicht, es lässt sich grenzenlos horten. Darum bewirkt es im Menschen die Begierde, grenzenlos Geld anzuhäufen. Wir häufen es gierig an in der Illusion, ewig zu leben. Hinter der Gier steht – so urteilte schon Aristoteles – die Angst vor dem Tod, die Angst vor der eigenen Begrenztheit. Gier ist die Abwehr von Furcht und Angst.

Unternehmen wir einen Ausflug von der Philosophie in die Entwicklungspsychologie, so finden wir: Unsere Manie, unsere Besessenheit, unsere Sucht nach Mehr und Mehr entspringt nicht einer primären Motivation des Menschen, dem Fresstrieb zum Beispiel oder dem ursprünglichen oralen Bedürfnis, sondern – ich folge hier dem Psychoanalytiker und Sozialpsychologen Hans Kilian: Die Manie ist eine Abwehr der Depression. Das Primäre sind Versagungen der Selbst-Entwicklung. Beim Stillen der Säuglinge ist nicht nur die Nahrungsaufnahme wichtig, sondern entscheidend ist das Spielen im Anschluss an die bloße Nahrungsaufnahme. Die Fähigkeiten des Gewahrwerdens des eigenen Erlebens und der eigenen Möglichkeiten entwickeln sich nur im Austausch, in der Spiegelung des Eigenen in den Augen der Mutter oder der Pflegeperson.

Wenn ein Kind zum Beispiel in den Augen der Mutter nur einen abwesenden Blick sieht, der es selbst nicht wahrnimmt, sondern nur die sachliche Situation, dann erkennt es nicht sich selbst. Erfährt es aber eine Mutter, die es ansieht und sieht und im Austausch mit ihm ist, dann entdeckt das Kind sich selbst. Dieses ist die Quelle der Empathie, des gegenseitigen Einfühlungsvermögens. Fehlt dem Erwachsenen später dieses Vermögen, sich durch unmittelbares Einfühlen eine Gewissheit zu verschaffen, was mit dem anderen los ist, sucht er sich Erklärungen mit Hilfe seines Verstandes. Es fehlt dann die unmittelbare Wahrnehmung und die Intuition. Er ist angewiesen darauf, dass er sich die Welt erklärt, die er nicht unmittelbar verstehen kann.

Der Psychotherapeut Arno Gruen zitiert hier in seiner Analyse Der Verrat am Selbst einen sehr schönen Vers von Friedrich Hebbel, ein Liebesgedicht an die Mutter:


So dir im Auge wundersam

Sah ich mich selbst entstehen.

Ein Kind, das sich nicht in den Augen der Mutter sieht, bleibt, obwohl es satt sein sollte, unruhig. Die Folge ist: Die Mütter – und auch die Pflegepersonen – versuchen, die Unruhe des Kindes zu besänftigen: Sie geben dem Kind noch mehr zu trinken und zu essen, stopfen noch mehr in es hinein. Das Kind erlernt den bedingten Reflex: Wenn ich unruhig bin, und nicht gestillt, dann brauche ich mehr und mehr, damit ich ruhig werde. Das ist eine der Ursachen des viel Fressens und des Dickwerdens. Es sind die ungestillten Kinder, die psychisch ungestillten Kinder, die dick werden. Ihre Befriedigung ist die Befriedigung eines Menschen, der Durst hat und dem man einen Essigschwamm reicht. Der Durst wird gelöscht, aber nicht gestillt. Das ist die Psychophysiologie des Ungenügens.

Peter C. Whybrow verweist hier auf die Forschungen des Neurologen Marco Iacoboni: Der empathische Lernprozess ist eine gelenkte Nachahmung oder Spiegelung. In Computertomogrammen wies er nach, dass eine Rückkoppelung miteinander kooperierender Zentren des jungen Gehirns das empathische Verstehen der Gefühle und Handlungen anderer erleichtert. In einem hochkomplexen neuronalen Zusammenspiel können diese Zentren die Gefühle und die Körpersprache unseres Gegenübers nachahmen und nachvollziehen, also spiegeln. Unsere Anteilnahme an anderen hat also mit Lernen und Einsicht, weniger mit Instinkt zu tun. Und diese Empathie ist es, dieses Einfühlvermögen, diese emotionale Intelligenz führt uns über die Interessen unseres „egoistischen“ Selbst hinaus, fördert gemeinsame Wertvorstellungen und formt die kollektiven Verhaltensweisen, die wir Kultur nennen. Empathisches Verstehen, so schreibt Peter C. Whybrow sehr schön, liefert das Herzblut – das psychische Immunsystem –, das erst die Menschlichkeit der Gesellschaft ausmacht.

In der frühesten Entwicklungsphase geht es also um die Erfahrung von affektiver Wechselseitigkeit. Das Defizit an Geliebtwerden und die Zurückweisung von Liebe ist hoch bedrohlich, das Kind fühlt sich bedroht von Selbstverlust und psychischer Vernichtung.


Und später? Alte Muster wirken fort. Wir kennen uns selbst nicht. Wir entbehren, wir hungern. Unser Durst wird nie gestillt. Wir sind Kannibalen. Wir sind gierig nach Leben. Was wir fressen, reißen wir anderen aus dem Leib. Wir müssen uns immer größere Stücke einverleiben, um die Geräusche des Verdauens zu hören. Das ist real, keine Realsatire! Wir sind vollsatt ausgehungerte Rülpser. Wir sind Borstenschweine und wälzen uns im Sumpf des Verdrängens. Aufklärung? Zugegrunzt. Moral? Abkassiert. Mitgefühl? Massakriert. Das ist die wahre industrialisierte Demokratie: Ihr da oben an den Wühltischen und wir da unten an den Wühltöpfen sind alle gleich. Unsere emotionale Intelligenz liegt bei Null.

Doch manchmal träumen wir. Wir träumen, mit den anderen in einer Gemeinschaft von Zärtlichkeit und Sympathie zu leben. Auch Peter C. Whybrow träumt – von den Wurzeln des Glücks. Er erzählt von der Gemeinschaft Seeds of Simplicity, die, ausgehend von Los Angeles, Einfachheit sät, Klarheit propagiert und Schlichtheit – ein Gegenmodell zu unserer Wegwerf- und Raff-Gesellschaft. Rückkehr zum menschlichen Maß verlangte auch schon der Österreicher Leopold Kohr, der 1983 den von Jacob von Uexküll gestifteten Alternativen Nobelpreis erhielt und dessen Ausspruch berühmt wurde: Small is beautiful. Es gibt viele Menschen und viele Projekte der Hoffnung. Und viele Menschen, die hoffen und Hoffnung machen.


Der kapitalistische Marktmensch ist ein kalkulierendes Individuum. Ich folge hier den gedanklichen Wegen zweier Theologieprofessoren (Ulrich Duchrow, René Krüger), eines Psychologen (Reinhold Bianchi) und eines Pfarrers (Vincenzo Petracca) in ihrem Buch Solidarisch Mensch werden: Der kapitalistische Marktmensch häuft mit Hilfe seines Tauschwerteigentums möglichst auf Kosten der Konkurrierenden so viel wie möglich „Reichtum, Macht, Ansehen (Status)“an. Schon Erich Fromm hat dieses, das Glücksstreben mittels Eigentumsvermehrung und den daraus entstehenden von Gier und Habsucht geprägten Sozialcharakter als die Herrschaft des Habens bezeichnet. Eine Herrschaft, die Lebendigkeit reduziert auf den abstrakten Wert der Funktionalität, eine Herrschaft, welche die Gefühle der Empathie und Sympathie verkümmern lässt. Das ganze Zeitalter, in dem wir leben, ist eines von ungeheurer Empfindungslosigkeit.

Hans Leyendecker, leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung, München, hat die Handlungsmuster von allzu Gierigen in seinem Buch Die große Gier aufgedeckt. Habsüchtige, die korrumpierten und sich korrumpieren ließen, und deren Sucht nach Mehr und Mehr ihre Sinne so gefangen nahm, bis sie schließlich verhaftet wurden – eine besondere Art der Selbstabfüllung als Kompensation eines Ungenügens, das nie genug bekommt.

Carl Amery zitierte in seinem Vorwort der Briefe an den Reichtum Balzac, der schrieb, dass den „wahrhaft großen Vermögen ein großes Verbrechen zugrunde liegt.“ Doch einzelne Akteure anzuprangern und ihre Befindlichkeiten und Psychosen zu analysieren, greift zu kurz. Die Verfasser von Solidarisch Mensch werden formulieren:


Bei der heutigen Anbetung des Goldenen Kalbes und der gesellschaftlichen Produktion von Gierigen geht es nicht nur um die Frage der Sucht, der Gier, sondern auch um die Frage der schweren Schuld dieses uns beherrschenden Systems. Die organisierte Verantwortungslosigkeit des Systems und die persönliche Verantwortungslosigkeit der Hauptakteure als Personen sind untrennbar miteinander verbunden. Wir befinden uns inmitten einer psychischen und sozialen Dekonstruktion des Menschlichen. Der globalisiert neoliberale Kapitalismus spaltet die Menschen und Gesellschaften in Verlierer und Gewinner.

Die Gier der Mächtigen stürzt die Ohnmächtigen in die Depression.

Millionen von Menschen sind vom sozialen Absturz betroffen, werden von Existenzunsicherheit und Existenzangst gequält.

Der Verlust des Arbeitsplatzes traumatisiert: Unerträgliche Angst und Ungewissheit führen kurzzeitig zur Auflehnung und Wut, gefolgt von Gefühlen der Ohnmacht, Verzweiflung, Erniedrigung und Wehr- und Wertlosigkeit. Am Schluss steht die Apathie.

Die extreme Folge des herrschenden Systems ist der Mord – der Mord an 100 000 Menschen jeden Tag. Sie sterben an Hunger oder dessen unmittelbaren Folgen.

Dem Mord folgt der Selbstmord: Wir sind eine mörderische und eine selbstmörderische Gesellschaft.


Die Opfer werden beschuldigt, „selbst schuld“ zu sein, und wir verdrängen, dass der neoliberale Wahn der Eliten hauptverantwortlich ist. Blaming the victim ist zum Beispiel der Stempel, den die Amerikaner in ihrer Außenpolitik anderen Völkern aufbrennen. Sie meinen, die Völker könnten anders, wenn sie nur wollten. Doch der Macht-Kapitalismus, der zur Eigengesetzlichkeit umgeschlagen ist, macht es unmöglich, dass bäuerliche Gesellschaften Erfolg haben können. In dieser unserer real existierenden globalisierten Weltwirtschaft ist das Elend für viele Menschen vorgezeichnet, und die Annahme, sie seien selber schuld, eine Ungeheuerlichkeit, ist eine imperialistische Anmaßung. Da wird Krieg geführt, meint der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in seinem Buch Die Mächte der Zukunft und ruft zum Widerstand gegen das IMPERIUM AMERICANUM auf und fordert, nicht zu willfährigen Ja-Sagern zu degenerieren.

Wacht auf! Joseph Eugen Stiglitz, Wirtschaftsnobelpreisträger und einst Chefökonom der Weltbank, wachte auf: Ich hatte ... den Eindruck, dass eine bestimmte Politik Menschen tötet, deshalb musste ich handeln.


Wir neigen dazu zu sagen: Wir können nicht anders. Wir fliehen ins Autoritäre, ins Destruktive, ins Konformistische. Wir sind Gefangene des amerikanischen Imperiums. Unsere Knochen sind ausgebleicht vom american way of life, unsere Wirtschaft hängt an der Nadel amerikanischer Gelüste. Viele der Einzelelemente, die Hitler und Stalin zur totalen Herrschaft führten, sind in der gegenwärtigen US-Politik wiederzufinden. In 63 Staaten haben die USA eine militärische Basis. In den vergangenen Jahrzehnten stürzten sie weltweit 50 Regierungen, attackierten und bombardierten rund um den Globus 30 Länder. Die Lasten der Expansion des amerikanischen Imperialismus werden – einschließlich des Krieges im Irak – vielfach anderen Ländern aufgelastet. Es ist eine verstecktere Form der Ausplünderung als wie sie Götz Aly in Hitlers Volkstaat beschreibt. Als Parasiten der Weltwirtschaft und Zerstörer der Weltordnung geißelte Eric Frey in seinem Schwarzbuch USA. Hinzu kommt – auch dies erinnert fatal an Nazi-Deutschland – das Sendungsbewusstsein des imperialen Amerika.

Fast süffisant trug der Journalist und Filmemacher John Pilger in seiner Rede The invisible Government folgende Wahrheiten vor: Die erste Wahrheit der amerikanischen Außenpolitik ist, dass sie maximale Profite und Macht will. Die zweite Wahrheit ist, dass sie dies gebetmühlenartig als Mission verkauft, den Menschen Freiheit, Demokratie und Menschenrechte zu bringen. Die dritte Wahrheit ist, dass die beiden ersten Wahrheiten gelten, egal ob Republikaner oder Demokraten an der Macht sind.


Die Völker der Erde sollten und sollen zu ihrem Glück gezwungen werden, Kapitalismus wurde und wird als Kultur verkauft.


Als Kultur? Als Religion! Die unpersönlichen Kräfte des Marktes sind das Goldene Kalb unserer Zeit... Das Diktat der Anpassung, der Unterwerfung, ist praktischer Vollzug dieser apersonalen Religion. Die neue Weltreligion ist die vorbehaltslose Unterwerfung unter die Gesetze des Marktes. Ja, wir beten das Kapital an, die Herrschaft des Geldes, den Mammon. Der tiefgründige Psychoanalytiker Wilhelm Reich sprach von der Ermordung des Lebendigen durch das gepanzerte Menschentier, und der scharfzüngige Globalisierungskritiker Jean Ziegler konstatiert:

„Die heutige kannibalische Weltordnung ist das Ende sämtlicher Werte der Aufklärung, das Ende der Grundwerte und der Menschenrechte. Entweder wird die strukturelle Gewalt der Konzerne gebrochen, oder die Demokratie ist vorbei und der Dschungel kommt.“


Kein Rufen, kein Aufschrei, keine Hoffnung? Doch! Du tust etwas für deinen nahen und fernen Nächsten. Du gibst, auch wenn dir nicht gegeben wird. Du kämpfst, auch wenn dich niemand rühmt. Du sagst: Nein. Nein, ich mache nicht mehr mit. Diesen Wahn, diesen Wahnsinn, der mich in die Depression führt, in die Verzweiflung, in deren Tiefe ich erkenne: Ich habe immer an mir vorbei gelebt. Ich bin falsch, eine Fälschung. Sie haben mich und mein inneres Kind gefälscht. Ich wache auf.

Die grundsätzliche Tragödie ist – so analysierte Wilhelm Reich in seinem Buch Christusmord schon 1953 – dass wir in der Falle sitzen, im Gefängnis eines falschen Selbst. Dieses falsche Selbst macht uns gefügig, lenkbar, kontrollierbar.

Werden wir uns dessen bewusst: Blicken wir nicht auf wie Schafe, seien wir wieder Rasende, Zornige – enragés.


Der Sozialpsychologe und Psychoanalytiker Hans Kilian – Mitbegründer der Humanistischen Union – , dem ich für dieses Nachwort wesentliche Gedanken verdanke, postulierte schon 1971 in seinem Standardwerk: Das enteignete Bewusstsein, dass der Hominisierung die Humanisation folgen müsse. Er sieht mehrere Stadien der Evolution. Die erste Phase, die biologische Menschwerdung über Mutation und Selektion der genetischen Erbanlagen – die Hominisierung. Die zweite Phase erfolgt durch kulturelle Prägung und transkulturelle Entwicklung. Es ist ein „Sprung in die neue Qualität“ der bewussten Humanisation, der gesellschaftlich und geschichtlich integrierten Einheit von Denken und Handeln. Ursprünglich in Partialkulturen sich ausformend sieht Hans Kilian heute im Zeichen der Globalisierung die Chance einer metakulturellen Humanisation.


Wir müssen uns beeilen, rief John Pilger in seine Rede, denn unsere liberale Demokratie treibt in Richtung einer Diktatur. John Pilger zitiert den Aufklärer und Menschenrechtler der Französischen Revolution, Thomas Paine: Wenn den Menschen die Wahrheit und die Ideen der Wahrheit versagt werden, dann ist es Zeit, Bewusstsein zu produzieren und gegen die Bastille der Lügen anzustürmen.


Liebe ist Handeln.

Handeln ist Wissen.

Wissen ist Wahrheit.

Wahrheit ist Licht.

Diese Sätze stammen aus Aldous Huxleys Die ewige Philosophie, ein Buch, das die inspiriertesten Denker und Religionsstifter der Welt vereint. Es ist die Botschaft der Wiederauferstehung des immer in uns lebendigen Guten. Oder um es noch einmal mit Wilhelm Reich zu formulieren: In jedem von uns wird Jesus Christus geboren.

Wachen wir auf. Lassen wir nicht abtöten unsere Fähigkeit, uns in authentischer Zuwendung um andere zu kümmern und für sie zu sorgen, unsere Fähigkeit zum Concern. Unser Menschsein – unsere Empathie und Zärtlichkeit, die uns erst zum Glück befähigen – sind tief in unserer Natur verwurzelt, es bedarf einer Kultur der Sympathie, in der dieses Menschsein Ausdruck finden kann. So schreibt Peter C. Whybrow und zielt auf eine schöpferische Weiterentwicklung des Humanen. Er ist hier nah dem Literaturnobelpreisträger Henri Bergson, der vor hundert Jahren den Begriff des élan vital geprägt hat, einer alle Gebiete des Seienden durchwaltenden geistigen Kraft, welche die Entwicklung des Humanen voran treibt: Solidarisch Mensch werden! Der Mensch ist ein geistiges Wesen, ein entscheidendes Sein, so der Wiener Psychiater und Neurologe Viktor E. Frankl, Schöpfer der Sinntherapie: Er ist da, um sich auszuliefern, sich preiszugeben, erkennend und liebend sich hinzugeben. Nicht Haben wollen, sondern Sein.

Eine deutliche Sprache spricht der Reformierte Weltbund. Diese Gemeinschaft von 215 reformierten Kirchen mit 75 Millionen Mitgliedern sagt

NEIN zur gegenwärtigen Wirtschaftsordnung des globalen neoliberalen Kapitalismus,

NEIN zur Kultur des ungebändigten Konsumverhaltens,

NEIN zu jeder Ideologie und jedem wirtschaftlichen Regime, das Profit über die Menschen stellt,

NEIN zu jeder Theologie, die den Anspruch erhebt, dass Gott auf der Seite der Reichen stehe, und dass Armut die Schuld der Armen sei.

Eine alternative Ökonomie fordert, das kapitalistische System auszuhungern, zu entmythologisieren und sich ihm klar zu verweigern: Widerstand.


Alle Befreiung hängt vom Bewusstsein der Knechtschaft ab, schrieb hellseherisch Herbert Marcuse schon 1967 und löste eine Initialzündung aus. Das Entstehen dieses Bewusstseins wird stets durch das Vorherrschen von Bedürfnissen und Befriedigungen behindert.

Wachen wir auf. Holen wir uns unser enteignetes Bewusstsein zurück.